Wiebke Tiedeken: Man mag es kaum glauben, aber in dem Gebäude, das ihr da vor euch seht, war früher eine Navigationsschule untergebracht.

Laura: Navigation benötigt man doch auf dem Meer, ich kann mir nicht vorstellen, warum die Menschen in Rhauderfehn eine Navigationsschule benötigten, hier gibt es doch bloß Kanäle und Wieken. Da kann man sich ja wohl kaum verfahren.

Hanna (lacht): Vielleicht waren ja die früheren Ostfriesen nicht die Cleversten unter der Sonne.

Maren: Was machen Ostfriesen, wenn sie einen Eimer heißes Wasser übrig haben? Einfrieren, heißes Wasser kann man immer gebrauchen. Alle lachen

Wiebke Tiedeken: Na, na, na, ich muss doch sehr bitten! Aber, in gewisser Weise habt ihr nicht Unrecht. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts nahm die Bevölkerungsdichte immer mehr zu. Dies hing nicht zuletzt mit dem Ausbau der Rajenwieke und der Südwieke zusammen. Viele junge Menschen drängten in die Seefahrt, von der sie sich ein gutes Auskommen versprachen. Allerdings waren sie für die Arbeit an Bord nicht gut ausgebildet. Daher wurde auf Betreiben des Volksschullehrers Heinrich Janssen Sundermann eine Navigationsschule gegründet. Allerdings fand der Unterricht zunächst in Privathäusern statt, da keine eigenen Räumlichkeiten zur Verfügung standen. Erst 1886 wurde für die Navigationsschule ein eigenes Gebäude errichtet, das übrigens als „Burg“ bezeichnet wurde.

Laura: Wenn man sich das Gebäude so anschaut, weiß man auch warum!

Maren: Werden dort eigentlich immer noch Seeleute ausgebildet. Es gibt doch, soviel ich weiß, eine Seefahrtschule in Leer.

Wiebke Tiedeken: Das ist richtig. Seit die Kleinbahn ihren Betrieb 1912 aufgenommen hatte, nahm die Bedeutung der Navigationsschule immer mehr ab, da die Seefahrtschule in Leer gut zu erreichen war. Aus diesem Grund wurde der Schulbetrieb für die angehenden Seeleute eingestellt. Für die wohlhabenden Fehntjer stellte dies aber keinen Grund dar, um Trübsal zu blasen, da sie nun den Unterricht an einer höheren Privatschule für ihre Kinder in den Räumen der Burg organisieren konnten. Bis Mitte des Jahres 1944 wurden Hunderte Mädchen und Jungen in der Burg zur „Mittleren Reife“ geführt, dann wurde der Unterricht unterbrochen, weil in dem Schulgebäude deutsche Soldaten untergebracht wurden, die Rückzugsgefechte mit Einheiten des Kriegsgegners führten.

Laura: Cool!

Hanna: Viel los scheint aber hier nicht zu sein. Es sieht so aus, als ob das Gebäude momentan leer steht.

Wiebke Tiedeken: Stimmt, nachdem im Jahre 1948 der Mittelschulunterricht wieder aufgenommen wurde,…

Laura (unterbricht): Ich verstehe nur Bahnhof. Was ist Mittelschulunterricht?

Wiebke Tiedeken: Heute würde man Realschulunterricht dazu sagen. Nachdem die Schule vom Landkreis Leer übernommen, in Realschule umbenannt und im Jahr 1968 in ein neues Schulgebäude in die Werftstraße verlegt worden war, wurde aus der ursprünglichen Navigationsschule eine Volksschule, die von Hans Deepen, einem ehemaligen Schüler der Mittelschule, geleitet wurde.

Maren: Mir schwirrt schon der Kopf von all den Fakten und den verschiedenen Schulformen.

Hanna: Kein Problem, ich habe alles mit meinem Handy aufgezeichnet. Am Ende des Rundganges kannst du dir alles noch einmal in Ruhe anhören.

Maren: Blöde Kuh!

Wiebke Tiedeken: Zu schwarz-weißen Rindviechern könnte ich euch auch eine Menge erzählen. Aber lasst mich zunächst mit der Geschichte der „Burg“ fortfahren: Bis Mitte der 70er Jahre wurde das Gebäude als Volksschule und als Übergangsunterkunft für Teile der Gemeindeverwaltung genutzt. Die Volksschule verabschiedete sich 1976 endgültig aus dem Gebäude und zog ins Untenende. Die freiwerdenden Räume wurden anschließend von der Sonderschule belegt, die bis zu ihrer Auflösung im Jahre 2017 den Namen Reilschule trug. Im Jahre 1976 übernahm Hans Klock die Leitung der Schule. Wie Hans Deepen war auch Rektor Klock ehemaliger Schüler der Mittelschule. Von ihm stammt übrigens das folgende Motto: „ Frei von Leistungsdruck lernen die Schüler mit ihren Möglichkeiten, was für ihre spätere Zukunft lebensbedeutend sein kann“.

Birthe: Klingt irgendwie ziemlich vernünftig und einleuchtend.

Hanna: Und warum steht das Gebäude heute leer. War das Motto von Herrn Klock nicht mehr zeitgemäß oder gibt es keine Schüler mehr mit Förderbedarf?

Wiebke Tiedeken: Das hängt mit der Inklusion zusammen, aber das ist ein anderes Thema. Ich schlage vor, wir gehen zur nächsten Station.